In seinem 1911 erschienenen Aufsatz „Der Henkel“ beschreibt der deutsche Soziologe Georg Simmel das Prinzip des Henkels damit, „der Vermittler des Kunstwerkes zur Welt hin zu sein, der doch selbst in die Kunstform völlig einbezogen ist“.[1] In dem von Simmel formulierten Anspruch, die praktische Funktion nicht nur ausüben zu können, sondern sie auch noch im Einklang mit der ästhetischen Wirkung „durch seine Erscheinung eindringlich“ zu machen, liegt die prototypische Hybridität des Henkels begründet.
Diese hybride Qualität zwischen Funktion, Kommunikation und Kontemplation macht sich der zypriotische Künstler Phanos Kyriacou in seiner Serie „Common Handles“ zunutze. Doch in Kyriacous Verwendung des Henkels, oder englisch handle, steckt auch ein Wortspiel: In der Informatik bezeichnet man als handle einen Referenzwert zu einer vom Betriebssystem verwalteten Systemressource. Neben „Common Handles“ beziehen sich auch Titel wie „Low Network“ oder „standing foot021“ auf Werkzeuge und Strukturen jener technologischen Realität, derer wir uns tagtäglich bedienen, und innerhalb deren Bahnen wir immer größere Teile unserer Leben führen. In einer Art von Sprachspielen greift Kyriacou Konzepte aus unserem digitalen Alltag auf und überträgt sie wortwörtlich in eine skulpturale Sprache, macht aus ihnen Objekte. Der Witz dieser Operation besteht in der Holprigkeit dieser Parallelführung – ihrer gleichzeitigen Präsenz als abstrakte Konzepte, die uns aus der Erfahrung mit den diversen Benutzeroberflächen einer ungreifbaren virtuellen Welt nur indirekt bekannt sind, und als konkrete skulpturale Objekte, die wir in einer unmittelbaren räumlichen Situation erfahren können. Gleichzeitig verweisen diese Hybride in die eine Richtung auf eine ihnen externe user experience – und in die andere auf ihre physisch-räumliche Präsenz in der augenblicklichen Situation. So machen sie die Absurdität unserer hybriden Lebensbedingungen, die immer zwischen der Direktheit der Wahrnehmung und der technologisch-sprachlichen Vermittlung stattfinden, einer räumlich-körperlichen Erfahrung zugänglich. Im gleichen Moment beziehen sich Kyriacous Werke auch auf den architektonischen Raum, spielen mit der Geschichtlichkeit der verwendeten Materialien – etwa dort, wo das traditionelle Material Terracotta auf die zeitgenössischen Materialien Polyurethan und Aluminium trifft – und erscheinen dabei wie Chiffren einer mysteriösen skulpturalen Sprache. Im Netzwerk zwischen den miteinander kommunizierenden Arbeiten, im sukzessiven Entdecken dieser Multiplizität von Aspekten und Funktionen eröffnet sich ein komplexer Erfahrungsraum, der über eine binäre Idee des Hybriden weit hinausgeht.
In diesem Aspekt einander überlappender Realitätsebenen liegt ein möglicher Berührungspunkt zwischen Kyriacous Arbeiten und jenen der Werkgruppe „Friction in Plain Sight“ von Nadia Guerroui. Auch die französische Künstlerin operiert gerne im Raum zwischen unterschiedlichen Systemen der Erfahrung. Trotz, oder gerade wegen der formalen Einfachheit der Arbeiten eröffnet sich im Beziehungsnetzwerk der verschiedenen Bedingungen ihrer Präsentation ein Spiel zwischen unterschiedlichen direkten und indirekten Erfahrungsmodi. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Rahmenbedingungen der Wahrnehmung, wie sie durch Licht, Tageszeit und architektonische wie auch natürliche Umgebung gegeben sind. Ihre Eingriffe in die Materialien sowie die Platzierungen ihrer oft ortsspezifisch konzipierten Arbeiten sind mitunter so nahe an der unteren Wahrnehmungsschwelle situiert, dass man sie überhaupt erst auf den zweiten Blick erkennt. Oft wird ein spezifisches, gut recherchiertes Material mit geringem Eingriff readymade-ähnlich zum Werk und rückt dabei sensorische und temporale Aspekte in den Vordergrund. Eine weitere Dimension der Rezeption tragen die lyrischen Texte bei, mit denen Guerroui ihre Arbeiten häufig begleitet, oder sie sogar in diese inkorporiert. Eine erklärte Intention der mit diesen Strategien beförderten poetischen Intimität von Guerrouis subtilen Setzungen ist es, eine entschleunigende Wirkung auf die Betrachter*innen auszuüben – aber nicht im Sinne einer entspannenden Wellnesstherapie für die müden Augen, sondern als Reibung entfaltender Sand im Getriebe der auf schnelle Kategorisierung eingestellten Verarbeitung visueller Information. Im Zeitalter der Ökonomie der Aufmerksamkeit soll damit der Geschwindigkeit der Prozesse der digitalen Welt eine Alternative entgegengesetzt werden.
Die Formulierung einer möglichen Rolle der Kunst als Modell und Werkzeug für eine Schärfung der Sinne für die verschiedenen Temporalitäten der Wahrnehmung und Erfassung der Welt hat eine derart lange Geschichte, dass man versucht ist, in ihr ein Klischee zu sehen. Doch gerade angesichts des schrillen Bilderspektakels unserer medialen Lebensrealitäten und der steigenden Dominanz der Regelung unseres sozialen Lebens mittels technischer Prozesse ist im Phänomen der intimen und stillen Begegnung eine kulturelle Technik von höchstem Wert zu erblicken. Oder, wie Jean-Luc Nancy formuliert, „Man könnte sagen, dass wir uns um die Begegnung sorgen, weil die Sichtbarkeit der soziotechnischen Prozesse uns aufmerksamer macht – und uns Angst macht – gegenüber der Möglichkeit, dass die Begegnung ihr Geheimnis, ihre Chance, seine unbedingte Anmut verliert. Und was, wenn uns dies im Gegenteil dazu einlädt, diese Anmut mehr zu schätzen zu wissen?“[2]
[1] Georg Simmel, „Der Henkel“, in: ders., Philosophische Kultur, Leipzig 1919 (2. Auflage), S. 116–124.
[2] Carolin Meister und Jean-Luc Nancy, Rencontre (e-book), Paris-Zurich-Berlin 2021, S.6.