Das persönlichste ist das Allgemeinste.
Carl. R. Rogers

Rogers ist Begründer des weltweit einflussreichsten psychotherapeutischen Ansatzes. Beständig ermutigte er der eigenen Wahrnehmung und dem eigenen inneren Prozess zu vertrauen, nicht zu erschrecken vor dem Persönlichsten, sondern es vielmehr – möglichst im Kontext von empathischer und wertschätzender Begleitung – zu offenbaren. Gelingt es, das Persönlichste zu artikulieren, entsteht seelische Berührung.

Georgs Exponate sind radikal persönlich. Waghalsig unverstellt. Er zoomt ganz groß in das Innerste des – eigenen – Lebens. Seine Werke zeigen seinen ebenso verwegenen wie zärtlichen Blick auf Eltern und Geschwister. Er zeigt sie ganz nah und in ihren Blicken sich selbst. Damit ist er auch den Betrachter:innen ganz nah.

Kunstgeschichte braucht eine Grenze zwischen Kunst und Profanität und fokussiert dabei zunächst auf die Kunst. Harold Garfinkel kehrt die Blickrichtung um und stellt fest, dass man, wenn man dem Profanen mit derselben Aufmerksamkeit begegnet wie dem Kunstwollen, erkennt, dass der Alltag in Abstimmung mit anderen nur durch kunstvolle Praktiken gelingt. Sie bleiben als implizites, in die Handlungspraxis eingelassenes Wissen in der Regel verborgen.1 Georg richtet den Blick auf diese artful ways of that accomplishment. Er fängt sie ein und überhöht sie, sodass man ihrer gewahr wird, sie sehen kann. Das Gemälde im Familienfoto. Die Stilikone in der Mutter. Die Lichtperfektion im Schnappschuss. Die Petrifikation des liebevoll geschützten Schlagzeugs.

Die gegenwärtig penetrante Überschwemmung mit visuellen Reizen, die unsere Aufmerksamkeit unmittelbar fesselt, gefangen nimmt, süchtig und unruhig macht, verkrümmt und verkümmern lässt. – Pause. – Entzug. Abstinenz. Klarheit. Radikalität. Disziplin. Sorgfalt. Liebe: Das gelingt diesen Exponaten. Wie? Bestimmte Bildpraktiken haben sich durch die neuen Technologien verbreitet wie ein Lauffeuer. Wir sind durch die ständige Verfügbarkeit von Möglichkeiten des Erzeugens, Bearbeitens, Speicherns und Verbreitens von Bildern, mit Max Imdahl gesprochen, geübt im „sehenden Sehen“: Die Alltagspraxis hat sich ausdifferenziert und kommt in manchen Aspekten der professionellen näher. Viele können Bilder professionell wirken lassen, ästhetisch, auffällig. Letztlich führt dies allerdings zu formaler Konvergenz. Georgs Bilder setzen hier einen Kontrapunkt. Sie sind – um noch einmal Imdahl zu bemühen – ikonisch komplexer, differenzierter, nicht (immer) vertraut. Subtil. Mich beruhigen und erfrischen die Bilder. Ich kann etwas anschauen ohne es zu konsumieren.

Ich habe auch etwas gelernt: Das Drücken des Auslösers ist das Kippen der Emotion, ein Affekt, eine Diskontinuität. Oft enttäuscht das Ergebnis, weil wir das Kippen, das Einzufangende im Resultat nicht finden. Mehrfach ausgewählt. Mehrfach gerahmt. Besonders die Bilder aus dem Familienalbum. Vom Vater für das Einkleben gewählt. Er ist Abbildender und Abgebildeter zugleich und wir können seinen Blick auf das Bild im Bild sehen. Die Richtigkeit, die der Moment für den Vater hat – in aller Schwierigkeit für die anderen. Und damit sehen wir auch den Blick des Künstlers auf seinen Vater.

Überhaupt sind die Blicke wichtig. Im Blick berühren einander die abbildenden und abgebildeten Bildproduzent:innen. Die schwangere Schwester posiert ohne zu posieren, ist ganz bei sich, vollkommen vertraut, ein wenig gelangweilt, hingegeben. Diese Übergegensätzlichkeit spiegelt sich in der Inszenierung: An die Schaumgeborene angelehnt und zugleich ganz unverfroren häuslich, unprofessionell. Entspannte Vertrautheit gepaart mit fast gelangweiltem Gleichmut kennzeichnen auch die der Kamera abgewandten Blicke von Vater, Mutter und älterer Schwester. Auf diese Weise wird die Nähe zum abbildenden Bildproduzenten gerade nicht in der Zuwendung des Blicks deutlich, sondern durch die Spiegelung der Qualität der Beziehung im Blick.

Und: Georgs Fotos feiern das Foto als Belichtung. Alle entstehen aus der Nähe des Übergangs von Tag und Nacht, Sonnenlicht und Dunkelheit. Viele geblitzt. Anachronistisch angesichts der Empfindlichkeit gegenwärtiger Digitaltechnologie. Mehr aber noch ein Hinweisen auf die Belichtung. Die Überbelichtung von Vater und Mutter spiegelt ihr Sie-radikal-ins-Licht-Stellen. Weich im Sonnenuntergang zugleich hart im Blitz. Die übergegensätzliche Belichtung wiederholt zugleich ihre Nähe zum abbildenden Bildproduzenten wie die Distanz zum Fotografiert-Werden, sowie Unbeholfenheit bei gleichzeitiger Gelassenheit in der Situation.

Im Bild von der Mutter als abbildende Bildproduzentin fällt noch mal alles zusammen: Der Baum, der nicht fallen sollte. Das Licht, das man so nicht intendieren kann. Draußen der Sonnenuntergang. Der Baum verschwindet doppelt, durch das Fallen und den Blitz. Zudem sieht man durch ihn zusätzlich das Innen und die Bildproduzentin. Das Kippen der Emotion, der Blitz, der sich – gleichsam wie ihr Ärger – in die Welt entlädt. Die Belichtung ist damit der Träger der mehrschichtigen Simultanität des Fotos.

Persönliche Geschichte ist hier Zeitgeschichte. Georgs Bilder sind Dokumente des Wandels der Zeit, der Familie, der Technik. Familienfoto. Familienalbum. Familiengeschichte. Fotopapier. Geklebte Familie. Verlust der Familie. Bewahrung der Familie. Verlust des Papiers. Bewahren der Fotos.

Univ.-Prof. Dr. Aglaja Przyborski
Bertha von Suttner Privatuniversität

 

1 „[D]ie objektive Realität sozialer Tatsachen als fortlaufende Umsetzung konzertierter Aktivitäten des täglichen Lebens, deren gewöhnliche, kunstvolle Art und Weise […] von den Mitgliedern […] als selbstverständlich empfunden wird, ist für Mitglieder, die Soziologie betreiben, ein grundlegendes Phänomen.“ (Harold Garfinkel)

 

Dank an Aglaja Przyborski, Gabriel Huth, Liesl Raff, Beate ­Seckauer, Neuzeughammer Keramik OG, Thomas Schwaiger, Foto Leutner GmbH, Mozarteum Salzburg, Caroline Nöbauer, Martin Sulzbacher, Familie Petermichl.

https://fotoleutner.at/

 

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