You are (not) alone, Daniel Ferstl
Was den Teilnehmer*innen des Kunstbetriebs schon seit geraumer Zeit schmerzlich bewusst ist, hat sich mittlerweile auch bis in die akademische Soziologie herumgesprochen: „Wir leben im kulturellen Kapitalismus,“ so Andreas Reckwitz. „Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden.“1 Auf einem alles durchdringenden Attraktivitätsmarkt wird ein Kampf um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit ausgetragen. Singularisiert wird im Zuge dieser „Valorisierungsgesellschaft“ nicht mehr nur das (künstlerische) Individuum, sondern ein sozial fabriziertes Geflecht von Körperteilen, Dingen und Praktiken.
So vielversprechend die Möglichkeiten zur Entfaltung und Behauptung des Selbst sich im Zeitalter der omnipräsenten digitalen Medien auch darstellen, führen die erhöhten Ansprüche an Besonderheit auf der medialen Bühne zu einer systematischen Enttäuschung. Die Kulturalisierung der Arbeit mit ihrer identifikatorischen Aufladung als Hauptquelle von Lebenssinn und Befriedigung befördert die spätmoderne Tendenz zur Selbstausbeutung. Das Fallen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben und die damit einhergehende chronische Erschöpfung tragen zur vielfachen Diagnose des „überforderten Subjekts“ bei.2
In Daniel Ferstls Ausstellung „Lovers“ fallen zunächst die cartoonhaften Figuren auf, die eine gespaltene Existenz in den Galerieräumen fristen: zum einen als Protagonist*innen von großformatigen Porträts, die als schimmernd bunte, weiche Textilreliefs an den Wänden hängen; zum anderen in Form von Stofftieren und Sitzmöbeln im realen Raum. Die Accessoires, die ihren Bildnissen den Anschein von allegorischen Darstellungen verleihen, haben sie scheinbar abgelegt. Als hätten die Figuren mit dem Verlassen des Bildträgers sowohl den physischen Halt als auch ihre Haltung verloren, wirken sie erschlafft, erschöpft, verzweifelt. Ein mögliches Narrativ dieser Inszenierung offenbart sich schnell: Ihre seidig-glänzenden, flauschig-weichen Darsteller scheinen aufgespalten in verschiedene Daseinsbereiche – in verschiedene, mit diesen einher gehende Bewusstseinszustände. Gegenüber den erschöpften Stoffskulpturen, mit denen die Betrachter*innen die dreidimensionale Präsenz im Realraum teilen, erscheinen die Bilder an der Wand wie imaginäre Projektionen – Avatare ihrer selbst. In “A Fool Such As I” (2022), zum Beispiel, steht im Zentrum des Bildes eine offensichtlich mit der Herstellung eines Selfies beschäftigte Blume. Um sie herum sind isolierte Körperteile und Fragmente von Fitnesscenterutensilien appliziert. Sauber und geordnet umgeben sie das mit muskulösen Blätter-Armen posierende Pflänzchen, als wären sie integrale Teile seines per Smartphone zu kommunizierenden Selbst-Bildes.
Mike Kelley schreibt 1989 in seinem Aufsatz „Foul Perfection“ über den Zusammenhang zwischen Karikatur und dem Grotesken. Er vergleicht dabei auch die namengebenden römischen Dekorationen mit Horrorfilmen der 1980er und sieht eine Parallele darin, dass in beiden Fällen „the body becomes an association of pieces at odds with each other – a group of parts that refuse to become whole“. Auch Pornographie ist Kelley zufolge auf dieselbe Weise organisiert. „Pornographic parts are cut out and isolated, and thus no less metaphoric: they become objectified stand-ins and irreal substitutes for themselves. In this way they gain the distance of the fetish.” 3
Im Grunde folgt die Insta-Kultur größtenteils der Logik des Porno. Isolierte Aspekte des Lebens (von menschlichen Subjekten, aber auch von sozialen Formationen), die deren Protagonist*innen auf einer möglichst unmittelbar wirkenden affektiven Ebene attraktiv machen sollen, werden als „verdinglichte Stellvertreter und irreale Substitute ihrer selbst“ zu Fetischobjekten. Gegenüber diesen fetischisierenden Bildern ist jedes reale Leben schnell mal enttäuschend. In den Sitz-Poufs, die auf die Ausstellungsräume verteilt sind, vollenden die Darsteller von Ferstls Inszenierung die Metamorphose vom Subjekt zum warenförmigen Objekt und werden zu willfährigen Accessoires des Ausstellungsbetriebs.
Eine merkwürdige Erweiterung erfahren die Beziehungsnetzwerke zwischen den ausgestellten Arbeiten durch die abstrakteren Bilder, die ebenfalls an der Wand hängen und stellvertretend für die vermenschlichten Cartoonfiguren deren Attribute aufgreifen. Gemeinsam sind ihnen die glänzenden Herzen als generischste und platteste aller Symbole im Vordergrund, im Hintergrund das kitschige Allover-Muster der bedruckten Stoffe – Die Setzung verschiedener Arten von vollkommener Oberflächlichkeit übereinander hat einen überraschenden Effekt zur Folge: Zwischen den beiden Ebenen tut sich ein ungreifbarer (Nicht-)Raum auf, von dessen Leere eine hypnotische Anziehungskraft ausgeht. Die Titel dieser Arbeiten „AT field (…)“ verweisen auf ein Feature der Charaktere der Anime-TV-Serie „Neon Genesis Evangelion“ aus dem Jahr 1995. Die „Absolute Terror Fields“ sind undurchdringliche Kraftfelder, die den Fantasiefiguren der „Angels“ und der „Evangelions“ als Verteidigungsschilder dienen. Doch auch für die menschlichen Akteur*innen in der TV-Serie erfüllen die A.T. Fields eine vitale Funktion, “bounding the ego and sense of self of a person from everyone else, allowing them to exist as an individual.” 4
In Daniel Ferstls Kunst findet die eigene Subjektivität ein Gravitationszentrum in der emphatischen Bejahung der Oberfläche und der imaginären wie auch symbolischen Leere – in der Aufgabe des standardisiert-idealisierten Ichs im Vertrauen auf den eigenen, wie auch immer schräg und vermeintlich kitschigen, Geschmack. Die „Leidenschaft des Geschmacksurteils ist das Innerste des Individuums“, so der Philosoph Christoph Menke. „Indem er Kraft ist – Leidenschaft (pathos) oder Energie“ wendet sich der Geschmack „als Vermögen autonomer Subjektivität“ gegen die Kontrolle durch Operationen der Reflexion und der Anpassung.5 Dennoch ist das Geschmacksurteil niemals beliebig, oder, wie John Waters sagt: „To understand bad taste one must have very good taste.“ 6
1 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, S. 11 (Kindle-Version).
2 Vgl. etwa: Thomas Fuchs et al. (Hg.), Das überforderte Subjekt: Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft, Berlin 2018.
3 Mike Kelley, „Foul Perfection. Thoughts on Caricature“, erstm. erschienen 1989, in ders., Foul Perfection: essays and criticism. Edited by John C. Welchman, Cambridge, Massachusetts/London, England 2003, S. 31–32.
4 https://evangelion.fandom.com/wiki/Absolute_Terror_Field (1. 3. 2022)
5 Christoph Menke, „Ein anderer Geschmack“, in ders. und Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2012, S. 236–237.
6 John Waters, Shock Value: A Tasteful Book About Bad Taste, New York 2005.